BABY an Bord

Mobile Kindheit

'Mobilität ist in unserer Gesellschaft zur Selbstverständlichkeit geworden. Es ist normal, ständig unterwegs zu sein - beruflich oder privat.' (Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Ursula von der Leyen)

Mit dem Slogan 'Von Anfang an immer unterwegs' wirbt auch ein Hersteller für Kindertransportmittel. Denn an der Mobilität der Erwachsenen haben bereits die Kleinsten teil. Im Tragetuch werden sie zu Veranstaltungen mitgenommen, im Kinderwagen durch die Stadt geschoben und im Autokindersitz auf unseren Straßen befördert.
Der Kinderwagen gehört seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den unverzichtbaren Utensilien in jeder Familie mit kleinen Kindern. Mit ihm gelingt es den Erwachsenen, mobil zu sein. Seine Form hat sich mit der Mode und der Entwicklung der Technik immer wieder verändert. Wurde zunächst aus dem Ziehwägelchen ein Kinderwagen, den frau schob, glichen die Kinderwagen in den 1950er Jahren den Automobilen der Zeit. Heute sind die superschicken Babykutschen funktional und erfüllen die Kriterien größtmöglicher Flexibilität und Mobilität. Die Kindertransportmittel spiegeln dabei den Zeitgeist, sind Boten des technischen Fortschritts und Ausdruck des sozialen Prestiges seiner Benutzerinnen und auch zunehmend seiner Benutzer. Und nicht zuletzt geben sie Auskunft über die Stellung des Kindes in einer Gesellschaft.

Wer sein Kind liebt, der schiebt
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts werden Kleinstkinder in Europa hauptsächlich getragen. Daneben erleichtern Holzziehwägelchen, fahrbare Korbwiegen, Schiebekarren sowie verkleinerte Nachbauten von Kutschen und Wagen, den Transport der Kinder.
Noch ist das Auto nicht erfunden und auch das Fahrrad steckt noch in den Kinderschuhen. Die Menschen bewegen sich zu Fuß, mit dem Wagen oder der Kutsche, zu Pferd oder im Winter mit dem Schlitten. Das Eisenbahnzeitalter hat gerade erst begonnen. 1839 verkehrt der erste Zug auf der Strecke zwischen Leipzig und Dresden. Die Erfindung des Kinderwagens liegt in der Luft.
1852 stellt der Zeitzer Stellmacher Ernst Naether auf der Leipziger Messe einen Kinderwagen vor, der die Lebenswelt von Mutter und Kind revolutionierte.

Luft und Licht für das Kind
50 Jahre später hat sich bereits viel verändert. Das Industriezeitalter mobilisiert Menschen und Güter. Noch ist das Auto Sportgerät vermögender Kunden. Arbeiter und Angestellte bewegen sich mit dem Fahrrad, der Eisen- oder wie in Chemnitz auch mit der Pferdebahn.
'Gib deinem Kind Sonne, Licht und Luft' empfiehlt ein Merkblatt jungen Müttern. Die Stadt veränderte die Lebensweise. Im Gegensatz zu heute herrschte Wohnungsnot. Beengte Wohnverhältnisse, mangelnde Hygiene, unzureichende sanitäre Verhältnisse sowie die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod kennzeichneten das Leben im Kaiserreich. In Chemnitz überlebte teilweise über ein Drittel der Säuglinge nicht das erste Lebensjahr.
Neue Erkenntnisse der Medizin in Geburtshilfe, Kinderheilkunde, Ernährung und Hygiene führten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur zu einer deutlichen Senkung der Säuglingssterblichkeit, sondern auch zu neuen Methoden der Kindererziehung. Dazu gehörte auch die Forderung führender Mediziner, Säuglinge täglich der frischen Luft auszusetzen. So fuhren die Kindermädchen der wohlhabenden Familien die Kleinsten im repräsentativen Kinderwagen spazieren, wenn die bürgerliche Dame nicht selbst den Nachwuchs in der Öffentlichkeit präsentierte. In den Arbeiterfamilien änderten sich die Verhältnisse erst langsam.

Die 'Neue Frau'
In den Goldenen Zwanzigern kauften sich Geschäftsreisende, Ärzte, später auch Angehörige handwerklicher Berufe in den ehemals honorigen Kreis der Automobilisten ein. Das Pferdegespann verschwand mehr und mehr aus dem Bild der Großstädte. Das erste Großserienfahrzeug in Deutschland wurde ab 1924 von Opel gebaut. Auch DKW produzierte Fahrzeuge für den kleinen Geldbeutel.
War der Kinderwagen zunächst mehr Statussymbol für Wohlhabende, konnten sich in den 1920er Jahren immer mehr Familien einen Kinderwagen leisten. Die Kinderwagen orientierten sich am Design der Autos. Er veränderte sein Aussehen: er wurde tiefer gelegt, die Räder wurden nach und nach kleiner. Sicherheit und Bequemlichkeit dominierten.

Sehnsucht nach Normalität und Mobilität
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten viele Menschen ihre Wohnung verloren. Hunger und Seuchen, der Mangel an Kleidung und Brennstoffen prägten die ersten Jahre nach dem Krieg. Die Wirtschaft musste langsam wieder in Gang gebracht werden.
Und während im Osten der Aufbau des Sozialismus voranschritt, begann im Westen das Wirtschaftswunder. Der Individualverkehr entwickelte sich zu einem Massenphänomen. Während sich in der Bundesrepublik der VW-Käfer großer Beliebtheit erfreute, fuhr man in der DDR weiterhin Motorrad.
In Ost und West dominiert die Stromlinienform das Design der Kinderwagen. Schutzbleche, Sichtscheibe, integrierte Kotflügel und Panoramascheiben erinnern an die Automobile der Zeit.

Bewegung kommt in die Gesellschaft
Nicht nur im Westen, auch im Osten wurden ab Mitte der 1970er Jahre immer weniger Kinder geboren. In der DDR traten neben die staatliche Kinderbetreuung weitere soziale Maßnahmen, um die Familiengründung zu erleichtern, die Geburtenzahl zu steigern und die Vollerwerbstätigkeit der Frauen zu sichern.
In der Bundesrepublik setzte Ende der 1960er Jahre ein tief greifender Wertewandel ein, tradierte Normen werden mehr und mehr in Frage gestellt. Die antiautoritäre Erziehung stößt auf Sympathisanten, aber auch auf erbitterte Gegner. Neue Erziehungsratschläge spiegeln sich auch im Angebot der Kinderwagen wider. Der Panorama-Kinderwagen mit Fenstern vorn und an der Seite erweiterte im wahrsten Sinne den Baby-Horizont.
Neben dem Kinderwagen entwickelte sich das Auto zum Haupttransportmittel für die Kinder. Es entstanden Sportwagenmodelle mit abnehmbarem Sitz, der als Babystuhl oder Autositz verwendet werden konnte. Vor allem der vom englischen Flugzeugkonstrukteur Owen Maclaren entwickelte und heute als Buggy bekannte zusammenfaltbare Sportwagen eroberte den Markt. Er ist praktisch handhabbar, leicht, auf kleinstem Raum zu verstauen, günstig, auf längere Zeit nutzbar.

Ausstellung in Kooperation mit dem KINDER ! WAGEN e. V.